Das Buch der Richter: Die Themen

Das Richterbuch berichtet über die Geschichte Israels von der Zeit nach Josuas Tod bis zum Beginn des Königtums. Dreihundert Jahre Geschichte wiederzugeben, ist keine leichte Aufgabe. Zuerst müssen die notwendigen Unterlagen zusammengetragen werden, hernach gilt es, eine Auswahl des Wichtigsten daraus zu treffen. Alles anzuführen ist unmöglich (vgl. Joh. 21.25).

Die Auslese der erzählten Begebenheiten richtet sich: (1) nach den verfügbaren Quellen, (2) nach der im Blickfeld stehenden Leserschaft, (3) nach den sittlichen Grundsätzen und der Geschichtsauffassung des Verfassers. Wir wollen sie nacheinander betrachten:

 

1.  Verfügt der Verfasser über magere historische Auskünfte, trachtet er danach, sie alle anzuführen. Damit besteht seine Arbeit nur in deren Zusammenstellung. Sind sie hingegen zahlreich, kann er seinem Text eine persönlichere Färbung verleihen. Beim Richterbuch scheinen Gesamtanordnung und Gleichgewicht des Ganzen (siehe Buchaufbau S. 53) auf einen solchen Tatbestand hinzuweisen. Es entsteht der Eindruck, der Verfasser habe die für sein Werk notwendigen Bausteine unter viel Stoff frei auswählen können.

2.  Ein Autor wird die zu treffende Auswahl nach dem richten, was seine Leser interessieren dürfte und was er ihnen vor Augen halten möchte. Die Statistiken werden von Soziologen und Ökonomen geschätzt, die detaillierte Beschreibung der Kämpfe interessiert die Kriegsveteranen, während die Porträts einiger Persönlichkeiten das breite Publikum erfreuen. Andererseits spricht die Schilderung von Menschen mehr an als kalte und unpersönliche Zahlen. Das Richterbuch stellt offensichtlich mehr als eine historische Chronik dar, denn der Verfasser will nicht nur den Verstand, sondern auch das Gemüt und damit eine breite Leserschaft ansprechen.

3.  Zu den moralischen Grundsätzen und der Weltanschauung, die ein Werk mitbestimmen: Ist ein Verfasser, und ein Historiker im Besonderen, von einer tiefen Wahrheitsliebe erfüllt, wird er sich bemühen, nur wirkliche Tatsachen zu erwähnen und auch den ganzen Gang der Geschichte wahrheitsgetreu zu schildern, d.h., weder wesentliche Einzelheiten auszulassen - und seien diese noch so unschön -, noch Zweitrangiges aufzublähen. Die biblischen Historiker zeigen sich hierin alle als vorbildlich, denn sie verschweigen auch Abstoßendes nicht. Die Weltanschauung hingegen führt zu einer unterschiedlichen Sicht der Dinge: Bei vielen zeitgenössischen Autoren z.B. führen materialistische Gedanken­gänge primär (manchmal sogar ausschließlich) zu einer Betrachtung sozialer Zustände. Die biblischen Verfasser dagegen sind vom unmittelbaren Wirken des Allmächtigen im Leben Israels überzeugt und heben das Verhältnis von Gott zu Seinem auserwählten Volk hervor. Ihrer Meinung nach liegt hier der Schlüssel zur richtigen Geschichtsbetrachtung und zum richtigen Geschichtsverständnis.

 

Damit weist das Richterbuch eine historische und auch eine prophetische Seite auf. Die beiden Elemente liegen nicht im Widerstreit, sondern ergänzen sich aufs Beste: Die erzählten Begebenheiten sind historisch (sie haben sich wirklich ereignet) und besitzen einen tieferen Sinn, denn den Gang der Geschichte bestimmen weder der Zufall noch die Umstände, auch nicht menschliche Anstrengung, sondern Gott und das Verhältnis der Menschen zu Ihm. Im hebräischen Kanon ist das Richterbuch unter den prophetischen Büchern eingereiht. Es bildet - zusammen mit den Josuabüchern, 1.und 2. Samuel sowie 1. und 2. Könige - die sogenannten früheren Propheten. Demgegenüber legte dann die griechische Übersetzung der Siebzig, die Septuaginta (LXX), die Betonung auf das Geschichtliche und fasste die früheren Propheten mit 1. und 2. Chronik, Esra, Nehemia und Esther zu den sogenannten geschichtlichen Büchern zusammen.

Das Hauptthema: Die Ablehnung des göttlichen Hoheitsanspruchs

Das Richterbuch beschäftigt sich also mit der Beziehung zwischen Gott und Seinem Volk während dreier Jahrhunderte. Eine wachsende Verwerfung Gottes prägt diese ganze Zeitspanne. Deshalb dreht sich das Hauptthema des Richterbuches auch um die Ablehnung des göttlichen Hoheitsanspruchs.

Immer wieder und von verschiedenen Seiten her sieht sich dieser Tatbestand im ganzen Buch als Leitmotiv aufgegriffen: Schon die erste Einführung (1.1-2.5) beschreibt Israels Unfügsamkeit auf politischem Gebiet. Die zweite Einführung (2.6‑3.6) hebt den religiösen Ungehorsam mit der Anbetung der ortsüblichen Götzen hervor. Der Hauptteil des Buches (3.7‑16.31) behandelt den Dienst der von Gott zur Rettung Israels gesalbten Richter und stellt die göttliche Erlösung in den Mittelpunkt. Je weiter aber der Bericht fortschreitet, um so deutlicher wird auch die Verwerfung Gottes, was sich besonders im wachsenden Widerstand des Volkes gegen die Richter ausdrückt. In den beiden Anhängen zum Buch (17-21) wird dann die Untreue der Leviten, der Männer, die von Gott als Vorbilder für Israel berufen worden waren, beleuchtet.

Jede Generation entfernt sich weiter von Gott. Die zweite Einführung, die eine Zusammenfassung der gesamten Richterzeit vermittelt, unterstreicht den zyklischen und fortschreitenden Aspekt dieser Ablehnung: Ein jedes Geschlecht wird untreu. Da greift Gott ein und straft Sein Volk. Angesichts der Schwierigkeiten kehrt es zum Herrn zurück, worauf dieser ihm einen Retter schickt. Die ersten Generationen (Otniel, Ehud, Debora, Gideon) sind von fünf solcher R‑Kreisläufe (Revolte, Ruin, Reue, Rettung, Ruhe) gekennzeichnet. Wegen der ständig wachsenden Sünde bleibt aber schließlich die Ruhe aus (unter Abimelech, Jephtah und Simson). Unter Simson, im letzten Kreislauf, fehlt die Reue des Volkes sogar.

Das Verhalten der Richter

Viele Exegeten stellen das Verhalten der Richter mit dieser fortschreitenden Untreue gleich. Die Führer seien lediglich ein Spiegelbild des Volkes. Am meisten kritisiert werden die letzten Träger dieses Amtes, Simson und Jephtah. Aber auch Gideon und sogar Ehud entgehen der Kritik nicht immer. Ein solch negatives Verständnis der Tätigkeit dieser Männer lässt indes die zweite Einführung gänzlich außer Acht, ist dort doch der Zweck ihres Amtes klar umschrieben: Diese Männer werden von Gott dazu erweckt, ihr Volk zu befreien. Die Schwierigkeiten dieses Zeitraumes entspringen nicht den Richtern, sondern der Weigerung des Volkes, ihnen zu gehorchen: „Doch erweckte der Herr Richter, die sie aus den Händen ihrer Räuber erretteten; aber auch ihren Richtern gehorchten sie nicht, sondern buhlten mit andern Göttern...“ (2.16‑17a). Der Nicht-Gehorsam den Gesalbten des Herrn gegenüber zeigt sich nach deren Tod sogar noch deutlicher: „Wenn aber der Herr ihnen Richter erweckte, so war der Herr mit dem Richter und errettete sie aus der Hand ihrer Feinde, solange der Richter lebte; denn der Herr erbarmte sich wegen ihrer Wehklage über ihre Bedränger und Unterdrücker. Wenn aber der Richter starb, so handelten sie wiederum verderblicher als ihre Väter“ (2.18‑19a).

Die Richter sind Vorbilder, von Gott mit Seinem Geist gesalbt und mit dem Auftrag versehen, das Volk zu retten. Israels Tragödie während der Richterzeit besteht darin, daß es diesen göttlichen Befreiern immer weniger gehorcht. Deren Ablehnung ist im Grunde nur ein Abglanz der Verwerfung Gottes. Wenn man vom Herrn nichts wissen will, anerkennt man auch Seine Diener nicht. Man widerspricht ihnen, kehrt ihnen den Rücken, bekämpft sie sogar. Die Verhärtung des Volkes Gott gegenüber hat wachsenden Widerspruch gegen den Dienst der Richter zur Folge. So schart sich die Gemeinschaft am Anfang noch einmütig hinter Ehud. Die nachfolgende Generation unterstützt Debora nur noch teilweise. Dem späteren Gideon widerspricht man und Jephtah wird sogar bekämpft. Als Ausklang findet sich Simson vom führenden Stamme Juda an die Philister ausgeliefert.

Der Verfasser des Richterbuches vermittelt uns noch weitere Einzelheiten, die den Dienst der Richter in ein positives Licht rücken. Erwähnt seien vor allem die siebenmaligen ausdrücklichen Bezugnahmen auf den Geist Gottes, der die Richter beseelte (3.10; 6.34; 11.29; 13.25; 14.6, 19; 15.14).

Leider werden diese Bezugnahmen von den Kommentatoren, die auf den Unterschieden zwischen dem Alten und Neuen Testament bestehen, häufig ihres Sinnes entleert. So habe der Geist Gottes nur zeitweise auf den Richtern geruht und nur ihre militärischen Fähigkeiten betroffen. Ihr inneres Wesen sei durch diese Salbung nicht angerührt worden. Mit einem Wort, sie seien nichts anderes gewesen als jüdische Bileam, Nebukadnezar oder Cyrus, d.h. gewöhnliche weltliche Werkzeuge, von Gott gebraucht, um Seine Absichten auszuführen. Dabei wird auf König Saul verwiesen, der den Geist Gottes wohl bekam, ihn aber wieder verlor (1. Sam. 16.14). So habe auch Simson seine Kraft und Gottes Wirken von sich weichen sehen (16.19‑20).

Diese Beispiele sind aber weniger überzeugend, als es den Anschein hat: Wohl wich Gottes Geist unzweifelhaft von Simson und Saul, wie das an beiden Stellen vom Verfasser hervorgehoben und für Saul sogar wiederholt wird. Doch findet sich nichts Derartiges für die Richter im Allgemeinen berichtet, vor Einbuße seiner Haare auch nicht für Simson. Der Verlust des Geistes ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Wird er nicht ausdrücklich erwähnt, darf man annehmen, dass er auf demjenigen ruhen blieb, der ihn erhalten hatte. Demnach tragen Simsons Taten vor seiner Untreue mit Delila das Siegel von Gottes Geist (was der Autor auch viermal wiederholt!). Der Verlust dieses Geistes und der damit verbundenen Kraft stellte sich erst ein, als der Richter Delila sein Geheimnis preisgab. Außer diesem einen Fehltritt erwähnt der Verfasser keinen andern, weder von Simson noch von einem andern Richter.

Die Trennung von göttlicher Salbung und göttlicher Geisteshaltung widerspricht dem, was die Bibel uns lehrt. Sie missachtet auch den Zusammenhang, in dem das Richterbuch die Aussagen über den Geist Gottes macht. Weder die Stellen, an denen sie vorkommen, noch ihre Anzahl sind belanglos. Der Verfasser erwähnt sie siebenmal, um damit die Stetigkeit und Allgegenwart von Gottes Geist bei den Richtern zu unterstreichen. Zum Zusammenhang: Der Geist Gottes wird zum ersten Mal bei Otniel erwähnt, dem Richter, der als Normbeispiel für alle andern dient. Damit entledigt sich der Verfasser der Verpflichtung, diese Bemerkung für jeden Richter ausdrücklich wiederholen zu müssen. Was für Otniel gesagt ist, gilt auch für die andern. Zu den besonderen Stellen: Die sechs weiteren Bezugnahmen erscheinen immer unmittelbar vor einer scheinbar fragwürdigen Tat, so vor der Bitte um die Zeichen auf dem Schaffell bei Gideon, vor Jephtahs Gelübde, vor Simsons Handlungsweise gegen die Philister. Damit gibt der Verfasser zu verstehen, dass sogar diese scheinbar anfechtbaren Handlungen auf göttliche Weisung hin geschahen.

Diese positive Sicht der Richter seitens des Verfassers wirft ein korrigierendes Licht auf die moralischen Einwände, die in einigen Kommentaren erhoben werden. So stellt sich bei den verwirrenden Handlungen der Richter nicht mehr die Frage, wie ein mit dem Geist Gottes erfüllter Mensch eine derartige Sünde begehen konnte, sondern welche geistlichen und moralischen Lehren der Gesalbte Gottes damit erteilt. Nun wird nicht mehr die Ethik der Richter in Zweifel gezogen, sondern die unsrige. Das Richterbuch stellt keineswegs ein bodenloses Fass voller Sittenlosigkeit und Untreue dar, wie man leichthin glauben könnte. Es spricht nicht nur von Finsternis und von der Sünde, in die Israel immer mehr versinkt, sondern auch von der von Gottes Geist überstrahlten Handlungsweise der Richter. Diese erwärmt das Herz und ermuntert die Frommen, in Zeiten allgemeinen Abfalls standhaft zu bleiben. Es sei auch unterstrichen, dass diese positive Wertung der Richter mit Hebr. 11.32, der einzigen neutestamentlichen Bezugnahme auf diese alttestamentlichen Berichte, im Einklang steht.

Die Sache aus diesem Blickwinkel zu sehen, besagt nicht, diese Männer seien fehlerlos gewesen! Nur Jesus Christus war ohne Sünde. Doch erwiesen sie sich als überdurchschnittlich Gott Hingegebene. Abgesehen von Simsons Fehltritt, auf den der Verfasser selbst hinweist, kann eine höhere Sicht der Dinge allen Handlungsweisen der Richter die Zustimmung nicht versagen. So betrachtet, pflegt das Richterbuch nicht nur einen Abscheu vor der Sünde, sondern auch die Liebe zur Wahrheit - ein Gesichtspunkt, der sich leider nicht allzu oft in den Kommentaren findet!

Das Thema der Vergeltung

Im Zusammenhang mit dem Hauptthema des Buches - der Verwerfung des göttlichen Hoheitsanspruchs - steht ein weiteres Thema, nämlich dasjenige der göttlichen Vergeltung.

Gott wird als der Herr verworfen, trotzdem bleibt Er der Herr. Es ist unmöglich, Ihm zu entfliehen und Seiner unumschränkten Herrschaft zu entgehen. Weil Israel es verschmäht, Ihm zu folgen, muss es die ihm angedrohten Flüche tragen, anstatt die verheißenen Segnungen zu empfangen. Die Bedingungen des Bundes (5. Mose 27‑28) waren vor der Landnahme klar formuliert und von Israel angenommen worden (Jos. 8.30‑35; 24.1‑28). Die enge Beziehung zwischen dem Richterbuch und dem 5. Buch Mose beruht nicht auf einer späten und gleichzeitigen Niederschrift der beiden Bücher, sondern auf der tiefen Überzeugung des Verfassers des Richterbuches, dass das 5. Buch Mose ‑ wie der ganze mosaische Bund ‑ den Hintergrund bildet, von dem her die Geschichte der Richter zu verstehen ist. Jedes Mal, wenn Israel widerstrebt, greift Gott ein und züchtigt Sein Volk. Und jedes Mal, wenn Israel Reue zeigt, vergibt ihm Gott und schickt ihm Hilfe (5. Mose 30.1‑10).

Die Strenge des Urteils entspricht immer der begangenen Sünde. Es wird keine unverhältnismäßige Rache geübt, denn Gott ist gerecht. Das Wiedervergeltungsgesetz (Auge um Auge, Zahn um Zahn) spiegelt diese ausgewogene Gerechtigkeit wider und findet sich von Gott und den Richtern regelmäßig angewandt - allerdings mehr dem Geist als dem Buchstaben nach. Weil sich Israel z.B. weigert, die heidnischen Völker zu bekämpfen, wird es von solchen besetzt (1.1-2.5). Das Verhältnis von Sünde und Gericht ist offensichtlich, auch wenn die räuberischen Völker nicht diejenigen sind, die von Israel hätten ausgerottet werden sollen. Im zweiten Anhang (19-21) hat die Deckung sündiger Israeliten - die Stadt Gibea erhielt Schutz durch Benjamin – einen Bürgerkrieg zur Folge. Die Lektion ist deutlich: Wer einem sündigen Bruder Schutz gewährt, wird von innen heraus zerstört. Das Verhältnis zwischen Sünde und Gericht lässt sich bis in Einzelheiten hinein verfolgen: Die Zahl der bei der Belagerung von Gibea getöteten Israeliten (22 000, dann 18 000) steht in direktem Zusammenhang mit der Sünde der Leviten, die das Land verunreinigten (siehe Kommentar 20.18‑25).

Auch in den persönlichen Geschichten stößt man immer wieder auf dieses Wiedervergeltungsgesetz. Der Tod der Bösen steht oft im Zusammenhang mit ihrer Sünde. Adoni-Besek erleidet die gleiche Verstümmelung, die er seinen Opfern zugefügt hat und anerkennt sogar die göttliche Gerechtigkeit: „Gott straft mich mit dem, was ich getan habe“ (1.5‑7). Eglon, der sich zur Errichtung seiner Tyrannei der Dienste eines Spions in der Person von Ehud hat bedienen wollen, sieht sich selbst betrogen und getroffen. Sisera, der Jael lügen heißt, wird selbst getäuscht. Abimelech, der seine Brüder auf ein und demselben Stein umbringt, wird von einem Stein erschlagen. Jephtah tötet die Männer von Ephraim, die ihn ungerechterweise umbringen wollten. Simson antwortet systematisch mit etwas dem Vergehen Entsprechendem auf das Unrecht der Philister. Eingehenderes darüber im fortlaufenden Kommentar.

Viele Christen können sich mit dieser Art von Gerechtigkeit nicht abfinden, weil sie ihnen mit der Bergpredigt unvereinbar scheint. Hat Jesus nicht selbst das Wiedervergeltungsgesetz abgelehnt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn!‘ Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deinen rechten Backen schlägt, so biete ihm auch den andern dar“ (Matth. 5.38‑43). Es ist hier nicht der Ort, dieser ganzen Frage nachzugehen, doch seien zwei Gesichtspunkte hervorgehoben: (1) Jesus hat sich nie gegen die Vorschriften des Alten Testamentes (Matth. 5.17‑19), sondern bloß gegen die Lehre der Schriftgelehrten und Pharisäer gewandt (Matth. 5.20). In der Bergpredigt greift Jesus nicht die Lehre des Alten Testamentes an, sondern deren Auslegung durch die Schriftgelehrten und Pharisäer. (2) Was das Wiedervergeltungs­gesetz im Besonderen anbetrifft, so sprach sich Jesus gegen dessen mißbräuchliche und persönliche Anwendung aus (Matth. 5.38‑42): Im Alten Testament galt dieses Gesetz für die Gesellschaft zur Rechtsprechung in schweren Fällen. Jesu Beispiele sind aber anderer Art. Sie beziehen sich auf die Gegenwehr des Opfers bei tragbaren, nicht lebensbedrohlichen Angriffen: einer Ohrfeige (wenn dich jemand mit dem Handrücken auf die rechte Backe schlägt), einem weggenommenen Rock, einer auferlegten undankbaren Arbeit (Matth. 5.39‑41). Diese Bemerkungen sollen dazu anregen, die Ethik des Alten Testamentes genauer zu überdenken. Sie ist keineswegs barbarisch, sondern spiegelt den Charakter eines gerechten und heiligen Gottes wider (3. Mose 19.2).

Das Thema der Erlösung

Ein zweites, untergeordnetes, doch eingehender als das oben behandelte Thema, ist dasjenige der göttlichen Erlösung. Zieht die Verwerfung des göttlichen Herrschaftsanspruchs das Gericht nach sich, so bringt dessen Anerkennung Segen. Sklaverei auf der einen Seite, aber Vergebung und Versöhnung auf der andern. Mit dieser Sicht des Verhältnisses zwischen Israel und seinem Herrn befasst sich der Hauptteil des Buches (3.7‑16.31). Die Errettung ist bei weitem die am breitesten erörterte der fünf Zyklusphasen: Revolte, Ruin, Reue, Rettung, Ruhe. Sobald Gott die ersten Reuerufe hört, schreitet Er ein und beruft einen Befreier.

Alle Richter erhielten dieselbe Aufgabe, aber der Gegensätze zwischen ihnen sind viele. So kommen die sechs wichtigsten Richter aus sechs verschiedenen Stämmen: Otniel aus Juda, Ehud aus Benjamin, Debora aus Ephraim, Gideon aus Manasse, Jephtah aus Gilead im Ostjordanland, Simson aus Dan. Debora ist eine Frau, Gideon fühlt sich schwach, Simson hingegen ist unbesiegbar. Otniel und Jephtah sind schon vor ihrer Berufung bekannt, was bei Gideon nicht der Fall zu sein scheint. Jephtah wird vom Volk erwählt, während Gott Gideon und Simson unmittelbar beruft. Ehud besitzt die Unterstützung des Volkes, Simson wird von den Seinen dem Feind ausgeliefert. Diese Gegensätze dürfen uns aber die große innere Ähnlichkeit der Richter nicht vergessen lassen. Jedesmal ruft Gott einen Menschen, der Sein Volk befreien soll. Der rettende Weg geht über einen messianischen Vorläufer, über eine mutige, hingebungsvolle, vom göttlichen Geist beseelte Gestalt voller Eifer und Glauben. So offenbart Gott den Befreiungsplan für Sein Volk, und der neutestamentliche Leser erkennt darin eine Ankündigung der vollen Erlösung durch Jesus Christus.

Immer wieder nimmt Gott bei Seiner Errettung scheinbar auch schwache Personen zur Besiegung der Feinde in den Dienst: Ehud dringt allein und nur mit einem Dolch bewaffnet in die moabitische Festung ein; Samgar verfügt nur über einen Stachel zum Treiben der Ochsen; Debora ist eine Frau; Gideon fühlt sich des Auftrags unwürdig und muss seine Armee vor dem Kampf von 32 000 auf 300 verringern; bei Jephtah handelt es sich um einen einstmals Ausgestoßenen; Simson muss allein, ohne Unterstützung durch die Seinen, gegen den Feind angehen. Als einzige Waffen dienen ihm seine Hände und ein frischer Eselskinnbacken.

Diese Schwachheit der Gesandten ist sehr lehrreich, unterstreicht sie doch den maßgeblichen Anteil Gottes am Sieg. Wohl müssen die Menschen mit ihren Fähigkeiten handeln: mit ihrer Kraft, ihrem Mut, ihrer Intelligenz, auch mit ihrer List, aber im Grunde genommen ist es Gott, der den Durchbruch gibt. Zur Überwindung der Feinde sind keine eisernen Wagen nötig, denn ein zum richtigen Zeitpunkt ausgesandtes Gewitter kann die feindlichen Kräfte lähmen. Gott ist tatsächlicher Herr über alles und Er schenkt den Sieg. Man könnte denken, Simson stelle eine Ausnahme dieser Regel menschlicher Schwachheit dar. Das hieße vergessen, dass die Kraft des letzten Richters einzig von Gott kommt. Nicht seinen Körpermaßen entspringt die Kraft, sondern seiner Hingabe an den Herrn. Als sich Simson die Haare abschneiden lässt und seine Kraft ihn verlässt, hat seine Muskelmasse um kein Gramm abgenommen. Ohne Gott ist Simson jämmerlich schwach.

Auch der Beitrag von drei Frauen zum gemeinsamen Erfolg veranschaulicht, wie Schwache den Sieg bringen: Debora füllt die Lücke aus, die furchtsame Männer gelassen haben. Ihr Mut veranlasst Barak und die andern Stammesführer samt dem ganzen Heer, den Kampf mit dem Feind aufzunehmen. Jael tötet Sisera, den feindlichen Feldherrn, mit einem Zeltpflock. Eine unbekannte Frau schlägt Abimelech mit einem Mühlstein den Kopf ein. Die durch die Schwachen erwirkte Rettung kündet, als Ganzes betrachtet, die Erlösung durch Jesus Christus an. Denn aus Jesus, dem Allerhöchsten, wurde ein gewöhnlicher Mensch, ein Diener, um die Sünde am Kreuz zu besiegen.

Das Königtum

Das letzte im Buch klar zum Ausdruck gebrachte Thema befasst sich mit dem Königtum. Viermal wird der Leser in den beiden Anhängen daran erinnert, dass „zu jener Zeit kein König in Israel war“ (17.6; 18.1; 19.1; 21.25). Der Zusammenhang zeigt, dass diese Bemerkung in abwertendem Sinne zu verstehen ist, beschreiben die vorangegangenen Berichte doch die Verkommenheit des Volkes: „Jedermann tat, was ihn recht dünkte“ (17.6; 21.25).

Die meisten Exegeten verstehen diese Bemerkung nun aber als Lob des menschlichen Königtums. Der Verfasser vergleiche die Epoche der Richter mit derjenigen der Könige. Die zentralisierte Macht werde gut beurteilt und lasse erkennen, dass das Buch zu einer Zeit geschrieben worden sei, in der es um das Königtum gut stand, wahrscheinlich zu Beginn der Regierung Davids.

Eine andere Auslegung der genannten Bemerkung scheint uns jedoch dem ganzen Richterbuch angemessener. Sie bezieht sich auf das gött1iche und nicht auf das menschliche Königtum. Der Verfasser bedauert nicht das Fehlen eines irdischen Königs, sondern die Verwerfung Gottes. Er scheint sogar gewisse anti-royalistische Tendenzen zu vertreten. Folgende Argumente stützen diese Sicht:

 

1.  Israels Schwäche zu Richterzeiten entspringt nicht einer mangelnden oder unzulänglichen Staatsmacht, sondern der Untreue des Volkes. Nach Josuas Tod ernannte Gott keinen Nachfolger, da Israel nun keines Führers mehr bedurfte. Jeder Stamm sollte sein Erbteil erobern. Für ein geordnetes und friedliches Alltagsleben genügten die politischen, juristischen und religiösen Strukturen vollauf, die Israel nach dem Auszug erhalten hatte. Die politische und geistliche Macht waren getrennt, die politische dezentralisiert. Im Alltagsleben wurden die sozialen Angelegenheiten auf Familien- und Gemeindeebene, ausnahmsweise auf Stammesebene, geregelt. Zuständig für die geistliche Leitung des Volkes waren die Priester und, in allgemeiner Weise, der Stamm Levi (die Leviten). Der gemeinsame Glaube an den Allerhöchsten wirkte der Gefahr eines Auseinanderbrechens der gesellschaftlichen Ordnung entgegen. Grundlage für die Einheit des Volkes bildete der Gottesdienst am einzigen Heiligtum (5. Mose 12), das die Israeliten dreimal im Jahr besuchen mussten (5. Mose 16.16). Im Mittelpunkt des Lebens stand Gott, und Er verband die Stämme zutiefst miteinander.

2.  Betrachtet man die Zusammenhänge (17.6; 18.1; 19.1; 21.25), in welche die vier Bemerkungen vom fehlenden Königtum fallen, so zeigt sich deutlich, dass kein menschlicher Monarch an der Sachlage etwas geändert hätte: Micha hätte seine Mutter auf gleiche Weise bestohlen und nachher einen Götzen hergestellt (17.6); nichts hätte den Leviten von einer Dienstausübung im Hause Michas abgehalten (18.1); Dan wäre genauso nordwärts gezogen (19.1), und Israel hätte in gleicher Weise versucht, Benjamin wieder zu bevölkern (21.25). Eine Zentralregierung hätte keiner dieser Situationen einen Riegel vorschieben können. Hingegen zeigen die vier Beispiele eine ganz offensichtliche Verwerfung Gottes.

3.  Die in den beiden Anhängen beschriebene Verkommenheit hängt unmittelbar mit der Sünde der Leviten zusammen. Beide Male ist darin die Verachtung eines Leviten für Gott beschrieben. Dies zeigt, wie das Land der Anarchie zutreibt, wenn die zuständige geistliche Obrigkeit ihrer Aufgabe nicht nachkommt.

4.  Der Bericht über Abimelech beschreibt die Verirrungen und Ungerechtigkeiten einer übermäßig zentralisierten Herrschafts­ge­walt. Abimelech vereinigt alle Macht in seinen Händen, bringt aber nur Tyrannei und Unterjochung. Er ist das Gegenbild eines Richters, Bedrücker anstatt Befreier.

5.  Schließlich spricht auch die natürliche Schwachheit der Richter gegen ein menschliches Königtum. Nicht die in den Händen eines einzigen Mannes zusammenlaufende Macht bürgt für die Wohlfahrt des Volkes. Wahrer und einziger Herr ist Gott. Er, dem alle Macht gegeben ist, verleiht die nötige Kraft wann und wem Er will. Um bestehen zu können, müssen die Menschen nicht von Natur aus stark sein, im Gegenteil: Sind sie schwach, wenden sie sich oft an Gott, woraus ihnen neues Leben entsteht. Hinter der Bewunderung für ein menschliches Königtum verbirgt sich häufig Verachtung für das göttliche (1. Sam. 8.6‑7).

 

Der Leitgedanke des Richterbuches ist von brennender Aktualität: Wie oft suchen Menschen doch das Heil der Gesellschaft in einem Führer, der ihren vielen Übeln abzuhelfen verspricht, obwohl allein eine Umkehr zu Gott zu persönlichem und nationalem Glück verhilft!